Portrait-Zyklus Huren


Lasur- und Mischtechnik auf auf Holz, 6 x 120 x 60 cm, 1996/97

Vom Pfarrhaus ins Bodell


Ein Freund war mit meiner Frau durchgebrannt. Zum zweiten mal stand ich vor dem Nichts. Frau weg. Kind weg. Keine Wohnung, kein Geld. Selbst der Job war weg. Warum mußte ich das zum zweiten Mal erleben? Ich empfand mich als lebensunfähig. Meine verbliebenen Möbel hatte ich verkauft. Ich soff, betäubte meinen Schmerz gründlich.

Der Dorfpastor zog mich aus dem Straßengraben. Ihm sei ähnliches passiert. Seine Frau würde bald aus dem Pfarrhaus ausziehen. Dann könnte ich zwei kleine Zimmer unter dem Dach nutzen. Es gab Bedingungen zu erfüllen. Eine Bitte war, daß ich, wenn ich wieder auszöge, den Flur des Pfarrhauses renoviere. Ich hatte Maler gelernt. Kein Problem. Zum Zweiten: Keinen Tropfen Alkohol. Der Kirchgemeinderat stimmte einstimmig zu. Welch ein rettendes Glück! Ein Jahr lang trank ich nur Wasser.

Das erste halbe Jahr wollten meine Hände nicht das, was ich von ihnen gewohnt war. Ich konnte nicht mehr malen, fühlte mich gelähmt. Es war eine schreckliche Zeit. Ja, ich war suizidgefährdet, hatte jedoch dem Pfarrer, mit dem ich mich auch heute freundschaftlich verbunden fühle, versprochen, mir nichts anzutun.

Aus einem Jahr wurden bei mir 18 Monate Pfarrhaus. Meine Selbstreparatur war aufwändiger als ursprünglich gedacht. Der Pfarrer und ich frühstückten gelegentlich gemeinsam. In der letzten Nacht habe ich etwas sehr seltsames geträumt, erzählte ich ihm einmal. Im Traum zog ich nach Wismar, ging ins Bordell und malte die Huren. Seine Antwort war spontan: Wenn ich Maler wäre, so würde ich das sofort tun!

Also renovierte ich den heiligen Flur. Der Dorfklempner packte meinen Sperrmüll und die Staffelei in seinen Transporter und fuhr mich nach Wismar. Dort besetzte ich ein zu Teilen leer stehendes altes Haus. Es war Wendezeit.

Selbst in der Ferne sah ich keine blühende Landschaften. Versichert war ich schon lange nicht mehr und der Personalausweis war seit Jahren abgelaufen. Ein Konto? Nein. In Wismar startete ich voller Zuversicht mit 30 DM in meine Zukunft als Maler. Ich hatte nichts zu verlieren. In solchen Situationen hat man keine Angst. Und falls ich im Knast landen sollte, so würde ich die Wächter malen.

Nun war ich auf der Suche nach einem Bordell und landete in einer der frivolsten und verräuchersten Kneipen der Stadt. Viele ernstzunehmende Literaten lasen zu Ost-Zeiten hier im einstigen Neuen Antiquariat. Das beliebte Büchereck mutierte zum Weinladen mit Kultcharakter. Dort verkuppelte mich der sehr belesene, trunklüsterne Wirt mit einem Herren, der als Eulenspiegel verkleidet beliebte Stadtführungen machte. Ihm hatte der Arzt Krebs diagnostiziert und er beschloß, den Rest seines Seins bei den Damen zu verbringen. Er kannte die fünf Bordelle der kleinen Stadt sehr genau.

Wir verabredeten uns und er stellte mich in der Folgenacht allen Huren der Stadt vor. Meine Damen, das ist er, der neue Portraitmaler dieser Stadt, hörte ich ihn mit tiefer Stimme sagen. Er wird euch alle malen! In diesem Moment wäre ich gern im Boden versunken. Mein Gott, ich kam aus dem Pfarrhaus, hatte gefühlt 200 Lichtjahre keine so leicht bekleideten Schönheiten gesehen. Da stand ich nun Schamviolett angelaufen und verfluchte meinen Traum.

Im letzten Bordell, dem edelsten der Stadt, traf ich auf junge Frauen, bei denen ich das Gefühl hatte, daß sie mich verstehen könnten. Hah! Vermute ich richtig, kein Sex, nur malen? Nun begann der Wettbewerb. Wer macht den Maler platt. Die Zuhälter hatten anfänglich keinerlei Verständnis für mein Projekt. Maler, mach die Mädels hier nicht verrückt mit deiner bekloppten Malerei, die sollen arbeiten.

Zum Monatsende, wenn Hamburger Bankern und Wismarer Werftarbeitern das Taschengeld ausging, langweilten sich die Damen. Irgendwie fehlten ihnen, zumindest finanziell, doch die Freier. Für mich war es gut. Wir hatten viel Zeit, auch zum Austausch von Lebensgeschichten. Wie bitte, Maler, Du hast Dich nach Jahren wieder verliebt? In eine von uns? Nein, es ist eine von da draußen. Sie ist Bauingenieurin. Naja, denn bring sie doch mal mit. Und tatsächlich sagte die Puffmutter, die auch neugierig war, zu. Aber wenn Freier kommen ist sie weg. Kein Problem. So saßen wir bei Speck und Wodka einige Nächte mit den Mädels hinter der Stripteasebühne und feierten ausgiebig das Leben.

In diese Halbwelt einzutauchen war nicht nur schräg, voller frivoler Geschichten und absurd, sondern echt spannend und interessant. Ein grandioses Spiegelbild unserer Gesellschaft, unterhaltsam und erschütternd zugleich.

Am Nachmittag meines 40. Geburtstags, die Nachbarn staunten nicht schlecht, fuhr ein goldfarbener Mercedes vor. Sechs Huren und die Puffmutter stiegen aus. Die Mädels leicht bekleidet, bewaffnet mit Blumen, Sekt und Torten. Das rauschende Fest war kurz vor 20 Uhr beendet. Die Damen mußten noch zur Arbeit.

Jetzt kannten sie die Armut, in der ich lebte. Von nun an bekam ich großartige Geschenke. Gebrauchte Teller, Besteck, Getränkegläser jeglicher Art. Eine schenkte mir tatsächlich ein Kopfkissen, als sie im kleinen Atelier Modell stand. Oft wartete ich viele Stunden auf die Frauen. Zeitlich war auf sie kein Verlass.

Boah! Dieses ewige Warten! So erdachte ich mir folgende Regel. Für jede Stunde zu spät kommen, bekomme ich am Abend an der Bar ein Freibier. Das klappte ganz gut und wurde zu meiner Hauptnahrungsquelle.

Nach der Wende wurde extrem viel gebaut. Baustelle an Baustelle. So bot es sich an, auf dem nächtlichen Heimweg täglich eine leere Holzpalette als willkommenes Heizmaterial für den Kachelofen im kleinen Atelier zu entsorgen.
Wintereinruch. Geld für Kohlen hatte ich nicht. Freunde aus Neukloster, die früher meine Disco besuchten, hörten von meiner unterkühlten Situation und luden unaufgefordert einen Anhänger voll Holz vor meiner Haustür ab. Das war die Rettung im Winter 1996/97.

Zu den Mädels entstanden echte Freundschaften. Eine aus Sibirien stammende sagte beim Anblick meiner Portraits, daß ich ihnen Würde gäbe, die sie im Alltag nicht erlebten.

Meiner Bauingenieurin gefielen die gemalten Portraits. Willst Du die nicht endlich mal ausstellen? Ich bin noch nicht gut genug. Wie lange brauchst Du denn? Bitte gib mir noch fünf Jahre. Tatsächlich hielt sie mir fünf Jahre lang finanziell den Rücken frei. Ja, er hat das Geld später zurückgezahlt.

Zu meiner ersten Ausstellung im Baumhaus am Alten Wismarer Hafen kamen zur Eröffnung im Mai 2001 mehr als 350 Besucher. Natürlich hatte ich auch die Puffmutter eingeladen. Aus der Ferne dachte sie beim Anblick der Massen zunächst, daß es eine Demo gegen die Hurenbilder, also gegen ihren Laden sei.
Aber Nein! Die Party ging bis in den erwachenden Morgen. Heute erzählt man sich im Wismarer Kulturamt: Damit rechnete keiner. Wir hatten Angst, daß das trinkfreudige Publikum ins Hafenbecken fällt.

Ein Jahr lang ging ich täglich ins Bordell. Danach war ich hin. Die Abgründe der Männer und die Geschichten der Mädchen verursachten in mir immer öfter apokalyptische Alpträume. So zog ich mich allmählich zurück.

Sechs lebensgroße Portraits künden von dieser unfassbar spannenden Zeit mit interessanten starken Frauen, die ich sehr schätzen lernte.

Jahre später, als meine Frau, ja die Ingenieurin, und ich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Herbertstraße in Hamburg wohnten, traf ich eine der jungen Damen in der Burlesque-Bar gegenüber erstmals wieder.

Hast Du unsere Portraits noch? Ja, natürlich. Ich hätte sie mehrfach verkaufen können, aber irgendwie konnte ich mich nie dazu durchringen. Also hast du mit uns kein Geld verdient? Nein!
Aber ich habe von Euch gelernt, viel gelernt, für und über das Leben. Das mein ich wirklich so.







Realistische Malerei heute, Manfred W. Jürgens Wismar

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